Zweiter Teil
Der Neoliberalismus ist in erster Linie ein Liberalismus.
Ich glaube, dass diese Feststellung zumindest in ideengeschichtlicher Hinsicht zutrifft. Auf den Neoliberalismus als Herrschaftspraxis usw. will ich an dieser Stelle nicht eingehen. An dieser Stelle geht es darum, dass der Neoliberalismus eine neue Version des „alten“ Liberalismus ist, also die Wiederaufnahme gewisser Grundannahmen, die darauf hinauslaufen, dass staatliche Maßnahmen die Selbstverwirklichung der Reichen und Mächtigen in keiner Weise zu beschränken haben. Nachdem die reine Lehre vom freien Markt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen gewissen Ansehensverlust erlebt hatte, weil die Diskrepanz zur Realität zu deutlich geworden war, erlebte sie im letzten Drittel eben desselben Jahrhunderts ein Comeback – vielleicht auch begünstigt durch den Umstand, dass die staatlichen Interventionen, die zwischendurch mal notwendig geworden waren, um das System der Marktwirtschaft am Leben zu erhalten, eben keinen Bruch mit diesem System, sondern lediglich ein Korrektiv darstellten. Ein Korrektiv allein begründet wohl noch keine neue Weltanschauung.
Auf den ideologischen Quark des Neoliberalismus will ich hier nicht näher eingehen. Dass seine Grundannahmen falsch sind, wird andauernd nachgewiesen, z. B. die Vorstellung des trickle down, die besagt, dass bei unbeschränkter Bereicherung der oberen Klassen etwas für die unteren Klassen bzw. das Gemeinwesen abfallen würde (bspw. aktuell widerlegt durch Saez / Zucman, Der Triumph der Ungerechtigkeit). Dass das alles Unsinn ist, schwant mittlerweile vielen, aber nur wenige führen sich vor Augen, dass dieser „Neo“-Liberalismus lediglich ein neu aufgelegter Liberalismus ist. Es ist eigentlich nur ein wiederbelebter Paläoliberalismus (während man einen Neokonservatismus von einem Paläoliberalismus auch aktuell unterscheiden kann, ist das „Neo“ im Liberalismus nur eine Frage des Datums). Im Alltag wird dies durch den Umstand illustriert, dass Anhänger*innen der neoliberalen Lehre sich gerne als „klassisch liberal“ (bspw. in Twitter-Bios) bezeichnen – ich nehme an, dass sie damit sogar recht haben.
Man würde den Liberalismus unterschätzen, wenn man nicht wahrnähme, dass er viele Facetten aufweist. Ich beobachte gelegentlich, dass Twitter-Teilnehmer*innen überrascht sind, wenn sie feststellen, wie weit rechts Leute stehen könne, die sich als „klassisch liberal“ bezeichnen. Es gibt diesen Flügel, der sich durch eine dezidierte Verachtung der Schwachen und der abhängig Beschäftigten auszeichnet und damit eine Nähe zur nichtdemokratischen Rechten einnimmt (ich habe in diesem Blog bereits deutlich gemacht, dass ich die Liberalen ansonsten als Teil einer legitimen demokratischen Rechten ansehe). Diese Sorte Liberale befindet sich in einem Modus des Frontdenkens, in dessen Wahrnehmung dem Tüchtigen stets Unbill durch die mittelmäßige Masse widerfährt. Diese Leute zählen sich selbst natürlich zur Elite, und man wird den Eindruck nicht ganz los, dass es ihnen wichtig ist, auf andere herabblicken zu können – beispielsweise mittels der Unterstellung, dass diejenigen, die ihre öden Gedankengänge nicht teilen, diese lediglich nicht verstünden.
Auffällig ist auch eine merkwürdige Ähnlichkeit dieser Liberalen mit den Sozialist*innen, nämlich ein grundsätzlich utopisch angelegtes Denken. Beide Gruppen denken jeweils von einer Utopie her, die einen Hintergrund darstellt vor dem die Realität als verwerflich erscheint. Während die Sozialist*innen Gewinnstreben als unanständig empfinden, ist bei den Liberalen jegliche staatliche Aktivität verpönt als eine Abweichung von einem Ideal, das ihrer Ansicht nach die Normalität sein sollte. Für die einen sind dementsprechend Profite, für die anderen Steuern jeweils eine Form von „Raub“. Ein Großteil der Liberalen propagiert ein reines Gesellschaftsmodell gemäß einer reinen Leere. Das kann man ja machen, aber es nützt ja doch nichts angesichts der Tatsache, dass im Zweifel der Staat einspringen muss, wenn der Markt wieder einmal versagt hat. Auffällig ist ein dualistisches Denken. Der Sozialismus wird als Popanz gerne bemüht, beispielsweise in hysterischen DDR-Vergleichen, wenn man auf die SPD eindreschen will, nur weil sie seit Jahrzehnten einen – übrigens überaus schwammigen – Demokratischen Sozialismus als ihre Grundlage beschreibt. In dieser Geisteswelt gibt es nur Gut und Böse – und ein Schritt in die Sozialstaatlichkeit wird schon als ein Abweichen vom rechten Pfad verstanden, das in die Richtung „Sozialismus“ führt – the road to serfdom… Liberale fühlen sich geknechtet, wenn Menschen, die nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren worden sind, Chancen bekommen. Am Ende spielen sich Liberale und Sozialist*innen jeweils in provozierender Absicht gegenseitig die Stichwörter für eine Diskussion zu, die mit dem grauen Alltag leider nicht viel zu tun hat.
Es gibt also keinen Grund für die Annahme, dass der Liberalismus von heute sich gegenüber dem von 1830 wesentlich weiterentwickelt hätte (oder dass die „klassisch Liberalen“ auf eine Weiterentwicklung Wert legen würden). Nachdem die Anwendung des Adam-Smith-Idylls, in dem die Vorteile des freien Marktes am Beispiel von Bäckern, Schmieden und Schuhmachern illustriert wurden, auf den Industriekapitalismus schon falsch war, wurde sie im Verlauf weiterer 150 Jahre nicht richtiger – und angesichts des entwickelten Finanzkapitalismus erscheinen „klassische“ Lehrbuchweisheiten als klassisch im Sinne von „antik“. Dass Eigentumsverhältnisse auf Machtverhältnisse zurückzuführen sind bzw. Machtverhältnisse darstellen, wollen die meisten Liberalen nicht sehen. Weil sie sich blind für die ökonomische Macht geben, können oder wollen die Liberalen entscheidende Bedrohungen der Freiheit nicht sehen – sie sehen nur die „Politik“ als Störfaktor. Die Liberalen werden den freien Markt immer entschiedener verteidigen als die Grundrechte – schon gar nicht werden sie einschreiten, wenn Grundrechte im Rahmen eines privaten Unternehmens verletzt werden, denn das kommt in ihrer Wahrnehmung gar nicht vor.
Liberale kannten ursprünglich keine Probleme, die der Markt nicht lösen kann. Mittlerweile sind sie dazu übergegangen, große Anstrengungen zu unternehmen, um diese Probleme auszublenden. Nachdem der Markt schon die sozioökonomischen Probleme bestenfalls bedingt lösen konnte, stößt er bei ökologischen Fragen endgültig an seine Grenzen. Das „klassische“ Lehrbuch spricht von ökologischen Problemen – beispielsweise wird verniedlichend die „Luftverschmutzung“ angeführt – als „Externalitäten“, als wenn sie irgendwie vom Himmel gefallen wären. Es nimmt nicht weiter Wunder, dass Hardcore-Liberale den Klimawandel lieber ganz leugnen, um sich nicht damit beschäftigen zu müssen. Er passt nämlich buchstäblich nicht in ihr Weltbild. Natürlich kommt es ihnen daher auch gar nicht in den Sinn, dass der Klimawandel zu einer der größten Bedrohungen menschlicher Freiheit werden könnte, die es in der Geschichte jemals gegeben hat. Wenn man Verantwortung nur als „Eigenverantwortung“ kennt, kommt man nicht darauf, dass die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen als Ergebnis des frei-verantwortungslosen Verhaltens den Menschen irgendwann mal jegliche Spielräume für ein „eigenverantwortliches“ Leben nehmen könnte. Und dies ist nur ein Beispiel dafür, dass der verantwortungslose Gebrauch der Freiheit, letztlich dieselbe bedrohen kann.
Liberale malen gerne die Schreckensvision einer „Öko-Diktatur“ an die Wand, um demokratisch legitimierte Maßnahmen zu diskreditieren, die eigentlich am Ende eine künftige reale Öko-Diktatur verhindern sollen. Entsprechend ist von den Liberalen auch keine Dankbarkeit dafür zu erwarten, dass der Sozialstaat sie vor dem Sozialismus bewahrt hat. Sie empfinden Politik an sich als Zumutung, auch wenn sie demokratisch ist. Deshalb beschreiben einige von ihnen selbst ihr Ideal als das einer „entpolitisierten“ Gesellschaft. Die altgriechische Bezeichnung idiotes für Menschen, die sich nur um ihre privaten Angelegenheiten interessieren und sich vom politischem Leben fernhalten, soll nicht wertend gewesen sein, aber die Formel „privat statt Staat“ kann man heute mit Recht idiotisch finden. Von dieser Art Freiheit werden die Reichen immer mehr haben, weil sie sich den Verzicht auf öffentliche Institutionen leisten können. Für alle anderen bedeutet dieser Verzicht das Fehlen von Teilhabemöglichkeiten, also von Möglichkeiten der Selbstentfaltung. Das ist der (vielleicht nur scheinbar) paradoxe freiheitsbeschränkende Effekt des Liberalismus.
Die Anhänger*innen des Liberalismus tragen zum einen ein großes Freiheitspathos vor sich her, vertreten aber zum anderen einen äußerst verkürzten Freiheitsbegriff, der das Streben nach Freiheit letztlich konterkariert. Die Liberalen feiern die „Freiheit“, betonen aber, dass sie keineswegs mehr sein darf als das Fehlen staatlicher Beschränkungen. Die Behauptung, dass Freiheit lediglich die Abwesenheit staatlicher Hindernisse ist, führt dazu, dass die Freiheit in anderen Beziehungen als der zwischen Bürger*in und Staat keine Rolle mehr spielt. Wer Freiheit in diesen mannigfaltigen anderen Beziehungen nicht sehen kann, kann dort auch die Unfreiheit nicht sehen. Wenn wir uns beim Kampf gegen Unfreiheit auf die Liberalen verlassen müssten, wären wir in der Tat verlassen.
Frei ist nur, wer selbstbestimmt ist. Und in Gemeinschaften ist Selbstbestimmung nicht möglich, wenn man nicht an der Gestaltung des Gemeinwesens, in dem man lebt, teilhat. Wenn soziale oder ökonomische Hürden diese Teilhabe verhindern, muss es das Ziel einer Politik der Freiheit sein, sie zu beseitigen. Freiheit ist keine private, sondern eine öffentliche Angelegenheit. Sie ist das republikanische Anliegen schlechthin. Wir sollten anfangen, Freiheit republikanisch zu denken.
Fortsetzung: Republikanismus
2 Gedanken zu „Freiheit statt Liberalismus II“