Die Vorstellung, dass Geschichte sich wiederhole, ist sehr mächtig.
Manche scheinen von dieser Vorstellung geradezu überwältigt zu werden. Geschichte wiederhole sich, da könne man wohl nichts machen, meinen sie, und derart vom Schicksal erschlagen ergeben sie sich in das vermeintlich Unvermeidliche.
Andere differenzieren und meinen, dass wer seine Geschichte nicht kenne, dazu verdammt sei, sie zu wiederholen. Und hier kommt ein Zitat des Philosophen George Santayana ins Spiel, in dem es aber gar nicht um Geschichte, sondern um Vergangenheit geht. Es geht auch nicht um jemanden, der „seine“ Vergangenheit nicht kennt, sondern ganz allgemein um Vergangenheit, und wir wollen hier mal etwas ausführlicher zitieren:
“Progress, far from consisting in change, depends on retentiveness. When change is absolute there remains no being to improve and no direction is set for possible improvement: and when experience is not retained, as among savages, infancy is perpetual. Those who cannot remember the past are condemned to repeat it. In the first stage of life the mind is frivolous and easily distracted; it misses progress by failing in consecutiveness and persistence. This is the condition of children and barbarians, in whom instinct has learned nothing from experience.”
Es geht also darum, dass Fortschritt Kontinuität braucht (siehe die Marginalie “Continuity necessary to progress”). Zu unterscheiden vom Zustand der „Wilden“, Kinder oder Barbaren, die unbewusst stetig dasselbe wiederholen, sind die Menschen auf einer weiteren Entwicklungsstufe, die an Erfahrungen anknüpfen können: “In a second stage men are docile to events, plastic to new habits and suggestions, yet able to graft them on original instincts, which they thus bring to fuller satisfaction. This is the plane of manhood and true progress.”
Das alles hat mit der Wiederholung komplexer historischer Vorgänge offensichtlich nichts zu tun. Und wo hätte sich denn Geschichte jemals wiederholt? Ist Cäsar zweimal ermordet worden? Verlor Napoleon wiederholt die Schlacht bei Waterloo? Oder was ist mit „Wiederholung“ gemeint? Ist Rom gezwungen, wieder von der Republik zum Prinzipat überzugehen? Schließt sich an die nächste Antike zwangsläufig ein Mittelalter an? Oder hilft Geschichtskenntnis und wir hätten eine Chance, im Wissen um die Vergangenheit mit der zweiten Reformation auch den sonst zwangsläufig darauf folgenden nächsten Dreißigjährigen Krieg zu verhindern? Diese Fragen sind offenkundig völlig blödsinnig und letztlich wissen wir, dass der vermeintliche Zwang zur Wiederholung der Geschichte sich immer nur auf den Aufstieg des Faschismus und die Schoa bezieht. Es gibt nur ein Problem: Dass diese Geschichte unbekannt sei, kann man wirklich nicht behaupten.
Es kann also zum einen nicht die Rede davon sein, dass sich „die“ Geschichte oder „die“ Vergangenheit wiederhole, sondern es geht um einen ganz bestimmten Teil unserer Geschichte. Zum anderen ist die Voraussetzung der Unkenntnis nicht gegeben. Ja, sicherlich wissen viele Menschen, darunter insbesondere Jugendliche, zu wenig über Nationalsozialismus und Schoa. Und sicherlich folgen zu viele Menschen Geschichtsfälschungen (was aber schon etwas ganz anderes ist als bloße Unkenntnis). Letzteres ist ein Problem, aber der Umstand, dass die extreme Rechte so großen Wert auf Geschichtspolitik legt, zeigt, dass wir hier es mit einer Sache zu tun haben, die immer noch verhandelt wird. Die Vergangenheit ist in diesem Fall nichts Unbewusstes, auch wenn von rechten Lügnern ein dezidiert falsches Bewusstsein gepflegt wird.
Heute gängige Parolen wie „Jetzt können wir endlich herausfinden, was wir anstelle unserer Großeltern getan hätten“ oder „Es ist 5 vor 1933“ sind gut zugespitzt, treffen es aber nicht ganz. Natürlich kann man die Bundesrepublik unserer Tage mit „Weimar“ vergleichen, aber wer wirklich vergleicht, muss auch die deutlichen Unterschiede bemerken.
Wenn man die Unterschiede aber nicht bemerkt, kann man der rechten Bedrohung unserer Gegenwart nicht adäquat begegnen. In der Endphase der Weimarer Republik waren die Voraussetzungen für den Aufstieg der Nazis nicht exakt dieselben wie heute. Wenn wir etwas anderes behaupten, sehen wir nicht genau genug hin! Tatsächlich habe ich so meine Zweifel daran, dass man heute einfach von einer Wiederkehr des Faschismus reden kann. Unsere Zeit ist eine deutlich andere als die vor hundert Jahren. Die Aufstiegsbedingungen des historischen Faschismus bzw. des Nationalsozialismus waren andere als die der neuen Bewegungen, die wir behelfsmäßig als „Faschismus“ bezeichnen, was heißt, dass wir vielleicht noch nicht die treffende Bezeichnung gefunden haben. Der Begriff scheint mir die Analyse zu erschweren, die „Weimar“-Metapher erst recht! Die sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen sind andere, es gab damals keine hochgejazzte Migrationsdebatte wie heute und keine sozialen Medien, die Blasen in Form regelrechter Parallelwelten bilden konnten.
Vom Faschismus konnte man wenigstens noch behaupten, dass er eine Vorstellung von der Zukunft und einen Bewegungscharakter hatte. Womit wir heute konfrontiert sind, ist eine Haltung, eigene Privilegien nicht in Frage stellen zu wollen, künftigen Generationen „Nach mir die Sintflut“ zuzurufen und Demokratie und Freiheit gegenüber gleichgültig zu sein. Beim Faschismus ging es irgendwie um mehr als um billiges russisches Gas und Nackensteaks. Wenn ich feiste AfDler über Männlichkeit fabulieren höre, scheint mir der neue Faschismus eher postheroischer Natur zu sein, und irgendwie stimmt da was nicht.
Wenn von der Wiederholung der Geschichte die Rede ist, werden wir an ein sehr bekanntes Marx-Zitat erinnert:
„Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“ (Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW, Bd. 8, S. 115)
Vielleicht ist es so. Allerdings sollte uns das nicht beruhigen, denn auch eine Farce kann grausam sein!