Freiheit statt Liberalismus I

Erster Teil
Wir müssen damit beginnen, den Liberalismus wieder ernstzunehmen.

Ihn ernstzunehmen heißt, sich zu ihm zu positionieren. Ich frage mich also, ob ich ein Liberaler bin oder nicht. Wenn Liberalismus unverbindlich ist wie „irgendwie für Freiheit sein“, wird der Begriff beliebig und bedeutungslos. Liberal sein bedeutete dann also nahezu nichts. Aber wenn er etwas bedeuten soll, kann er nicht belanglos sein. Liberal sein ist einigermaßen populär. „Illiberal“ sind osteuropäische Rechte und „antiliberal“ sind französische Linksradikale, aber sonst muss man schon suchen, um Menschen zu finden, die explizit nicht liberal sein wollen. Aber wenn „liberal“ eine Weltanschauung beschreiben soll und nicht nur eine Haltung des Leben-und-Leben-Lassens (oder als Ausdruck der alten lateinischen liberalitas), muss man klarere Begriffe verwenden.

Wir leben in einer liberalen Demokratie, die von vielen als bedroht empfunden wird. Sie erscheint also nicht mehr als selbstverständlich. Ich bin grundsätzlich der Auffassung, dass die liberale Demokratie verteidigt werden muss. Das bedeutet aber nicht, dass ich die liberale Demokratie als das Ende des menschheitsgeschichtlichen Fortschritts betrachte, zu dem es grundsätzlich nur grausame Alternativen geben kann, die irgendwie als „Rück- oder Abfall“ in oder von der Entwicklung der Menschheit anzusehen sind. Wir wissen, dass Demokratie illiberal sein kann und Liberalismus nicht unbedingt demokratisch sein muss. Es gibt keine unauflösbare Verbindung von Liberalismus und Demokratie – man kann eine solche Verbindung für wünschenswert halten, alternativlos ist sie aber nicht. Allerdings hat sich noch keine attraktive Alternative präsentiert!

Vielleicht gibt es auch verschiedene Liberalismen. Ich glaube allerdings, dass den Liberalismus ernstzunehmen heißt, zumindest den Versuch zu unternehmen, ihn auch als Einheit zu verstehen. Vielleicht ist dieser Versuch am Ende nicht erfolgreich, weil der Liberalismus einfach nicht kohärent ist, aber die Teilliberalismen erscheinen erst einmal als unvollständig. Die typischen „Linksliberalen“, die Heribert Prantls Kommentare zur Erbauung lesen, scheinen sich von den sogenannten Wirtschaftsliberalen unterscheiden zu wollen. Die Kombination von beidem findet sich politisch in Deutschland nur in einer der sogenannten „kleinen“ Parteien – der FDP (und in den USA hat 2016 die Kandidatin, die für beides stand, die Präsidentschaftswahl gegen Donald Trump verloren).

Der Grundgedanke des Liberalismus ist in seiner Einfachheit so bestechend wie defizitär: Es wird davon ausgegangen, dass in einer Gesellschaft, in der die/der Einzelne ihre/seine Interessen konsequent verfolgen kann, der größte gemeinsame Nutzen für alle erzielt wird. Beispiel Wirtschaft: Durch freien Wettbewerb werden die besten Resultate für Unternehmer*innen, Arbeitnehmer*innen und Verbraucher*innen erzielt. Beispiel Pluralismus: Um zu den besten Lösungen in wissenschaftlichen oder technischen Fragen zu kommen, muss ein freier Wettbewerb der Meinungen und Ansätze möglich sein. Das alles ist nicht ganz falsch, aber nicht der Weisheit letzter Schluss: Ja, Märkte sind erstaunlich effizient, aber sie können eben doch nicht alles regeln, was sie regeln sollen. Pluralismus ist unabdingbar, aber die Gleichberechtigung gefühlter Wahrheiten und in Youtube-Videos erworbener Erkenntnisse mit tatsächlich wissenschaftlich fundierten Stellungnahmen erweist sich als eine Entwicklung, die mit Wahrheitsfindung nichts mehr zu tun hat. Die sogenannte „negative Freiheit“ (als Freiheit von Be- oder Einschränkungen) kann als notwendige, aber eben nicht hinreichende Bedingung des Gemeinwohls gelten (auf die Gegenüberstellung der Konzepte der „negativen“ und der „positiven Freiheit“ werden wir vielleicht später nochmal eingehen müssen). Der Liberalismus betont aber ausschließlich die Bedeutung der negativen Freiheit.

Die Auffassung, dass alles, was das Verfolgen individueller Interessen beschränke, von Übel und abzuschaffen sei, ist der eigentliche Liberalismus als in sich geschlossene Ideologie. Andere Liberalismen sind lediglich teilliberal. Auf den Neo- bzw. Wirtschaftsliberalismus gehe ich etwas später ein. Ich selbst finde die Selbstcharakterisierung Daniel Bells, a socialist in economics, a liberal in politics, and a conservative in culture zu sein, charmant. In einem ähnlichen Sinne teilliberal bin ich auch, aber das macht mich eben noch nicht zum „Liberalen“. Es wäre absurd, beispielsweise jeden Menschen, der die Freiheit der Meinungsäußerung befürwortet, allein deshalb zum „Liberalen“ zu erklären. Umgekehrt ist der Satz „Sie sagen ‚Freiheit‘ und meinen Egoismus“ kein echter Vorwurf gegen die Liberalen, die eben jenen Egoismus ja als etwas für die Gesellschaft Nützliches betrachten. Dass eine solche Ideologie durch Arschlöcher ausgenutzt werden kann, um ihren Egoismus als politische Haltung zu verbrämen, kann allein kein Argument gegen den Liberalismus sein, denn es gibt auch diejenigen, die ihre geistige Unbeweglichkeit als „Konservatismus“ bezeichnen oder ihren Unwillen, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten, als „Sozialismus“ – das allein widerlegt Konservatismus und Sozialismus jeweils auch noch nicht.

Ich unterscheide Neigungen von geschlossenen (im Sinne von „schlüssigen“) Weltbildern: Ich mag mal mehr, mal weniger „liberal“ in dem Sinne sein, dass ich mehr oder weniger Freiheiten fordere. Ich mag mal mehr oder weniger „konservativ“ sein in dem Sinne, dass ich mehr oder weniger überkommene Werte und Traditionen betone oder Reformen bremsen möchte. Ich kann vielleicht auch mehr oder weniger „sozialistisch“ sein, indem ich den Sozialstaat ausbauen möchte oder auch nicht. Das macht mich jeweils nicht zum „Liberalen“, „Konservativen“ oder „Sozialisten“ im Sinne von Vertreter der jeweiligen Ideologie.

Und so sollte man das Für-die-Freiheit-Sein nicht mit Liberalismus verwechseln! Wenn die Bedrohung der liberalen Demokratie im Kern eine Bedrohung der Freiheit ist, wäre es ja der schiere Wahnsinn, sich darauf zu verlassen, dass die Liberalen allein sie verteidigen könnten. Wenn wir auf den Liberalismus angewiesen wären, um die Freiheit zu verteidigen, wären wir aufgeschmissen, zumal die Liberalen, die es gibt, erfahrungsgemäß die Freiheit des Kapitals weitaus leidenschaftlicher verteidigen als die freiheitliche Gesellschaft bzw. die liberale Demokratie [siehe z. B. das Kapitel „Hayek in Chile“ in Grégoire Chamayous Buch „Die unregierbare Gesellschaft. Eine Genealogie des autoritären Liberalismus“ (2019)].

Es wäre vielleicht sinnvoller, von der „freiheitlichen“ Demokratie zu sprechen statt von der „liberalen“, um das Missverständnis zu vermeiden, dass es der Liberalismus sei, von der die „Liberalität“ der Demokratie abhänge. Es gibt auch keinen Grund zu der Annahme, dass Rechtsstaatlichkeit nur ein ausschließlich liberalistisches Prinzip sein könne.

Zwei bekannte deutsche Autoren beschäftigen sich in ihren jüngsten Büchern mit der Rettung des Liberalismus vor populistischen und illiberalen Tendenzen: Andreas Reckwitz und Jan-Werner Müller. Ersterer stellt in seinem Buch „Das Ende der Illusionen“ eine Krise des aus seiner Sicht zuletzt dominanten „apertistischen Liberalismus“ fest. Darunter versteht er, verkürzt gesagt, die Kombination von gesellschaftspolitischem (Links)Liberalismus und Wirtschaftsliberalismus (bzw. Neoliberalismus). Diese Spielart des Liberalismus, die (immer noch verkürzt gesagt) darauf fokussiert ist, Schranken – sei es gesellschaftlich-kultureller, sei es wirtschaftlicher Natur – zu beseitigen – gerät ganz offensichtlich an ihre Grenzen bzw. verliert an Akzeptanz. Die Lösung sieht Reckwitz in einem regulativen bzw. „einbettenden“ Liberalismus. Das Problem dabei ist, dass das erstens ein Widerspruch in sich selbst ist: Liberalismus ist der Verzicht auf Regulation bzw. „Einbettung“. Zweitens wird nicht ganz klar, in was genau dieser neue Liberalismus die Menschen „einbetten“ soll. Es klingt so, als solle der Liberalismus sich retten, indem er nicht nur etwas weniger liberal wird, sondern auch auf Werte und Bezüge verweisen soll, die er zuvor als freiheitsfeindlich zertrümmert hat, wie Solidarität oder gesellschaftliche Regeln. Schließlich wird auch deutlich, dass der Liberalismus eine Elitenideologie ist: Nachdem er die Menschen vermeintlich „befreit“ hat, soll er sie jetzt paternalistisch „einbetten“ – es fragt sich, warum die das jetzt mit sich machen lassen sollen.

Jan-Werner Müller plädiert in „Furcht und Freiheit“ für einen „anderen Liberalismus“ – mit Bezug auf den „Liberalismus der Furcht“ von Judith Shklar. Nun muss ich gestehen, mich mit diesem Begriff bzw. Buch Shklars noch nicht beschäftigt zu haben, also kann ich mich nur auf das beziehen, was Müller referiert: Es geht dieser Spielart des Liberalismus offenbar in erster Linie um die Vermeidung von Grausamkeit (als Gefährdung der Freiheit, nehme ich an). So interessant das klingt, bleiben auch hier Fragen offen (bei Müller jedenfalls – ob auch bei Shklar, weiß ich nicht): Ist dieser Liberalismus lediglich eine Opposition gegen totalitäre (grausame) Tendenzen bzw. Regimes? Wie gestaltet sich eine Politik eines solchen Liberalismus, wenn er hegemonial geworden ist – wie sieht beispielsweise seine Wirtschafts- oder Sozialpolitik aus? Während bei Reckwitz der Liberalismus eine Kehrtwende einlegen soll, die letztlich seinem Wesenskern widerspricht, soll er sich bei Müller gewissermaßen auf den Aspekt der Grausamkeitsvermeidung zurückziehen: Die Gesellschaft ist pluralistischer geworden und die Marktkräfte wurden entfesselt. Jetzt, wo sich Widerstände gegen diese Entwicklungen regen, soll der Liberalismus sich darauf konzentrieren, Grausamkeit zu vermeiden – wie er das machen soll, bleibt unklar.

Auffällig ist erstens, dass die beiden genannten Konzepte sehr defensiv wirken. Sie scheinen am Ende nichts daran zu ändern, dass der Liberalismus so oder so auf dem Rückzug ist. Beide Konzepte nehmen die Bevölkerung und/oder die gesellschaftliche Dynamik offenbar auch als etwas „Bedrohliches“ wahr, das „eingebettet“ bzw. an Grausamkeiten gehindert werden müssen. Und zweitens: „Der“ Liberalismus erscheint in diesen Texten gewissermaßen als handelndes Subjekt, z. B. wenn er etwas „einbettet“ oder „vermeidet“ usw. Man weiß nicht so recht, wer dahintersteht, welche Menschen tatsächlich handeln sollen. Etwa die Liberalen? Und wer soll das sein?

Auch ein „einbettender“ Liberalismus ist offenbar ebenso wie der „Liberalismus der Furcht“ immer noch im Konzept der negativen Freiheit begründet. Diese Liberalismen können die Schwachen nicht schützen, weil sie sie nicht ermächtigen wollen – eine Philosophie, die lediglich darauf abzielt, dass die Menschen in Ruhe gelassen werden, kann die Menschen nicht zur Freiheit als Selbstbestimmung befähigen. Dieser Liberalismus ist zu limitiert, um umfassende Freiheit ermöglichen zu können.

Die Weisheit, dass die Freiheit der oder des Einzelnen seine Grenzen in der Freiheit der oder des Anderen findet, scheint mir nicht mehr so präsent zu sein, seitdem die Liberalen sich darauf konzentrieren, die „Eigenverantwortung“ zu betonen, und diese der Verantwortung an sich überordnen. Hier drängt sich der Verweis auf die aktuelle Pandemiesituation leider auf: Dass das Prinzip, dass alle jeweils die anderen schützen – z. B. indem sie Mund-Nasen-Abdeckungen tragen, die ja nicht dem Selbstschutz, sondern dem Schutz anderer dienen – wenn es denn konsequent genug befolgt wird, effektiver ist als die Übernahme von Verantwortung einer/eines jeden für sich selbst, macht die Grenzen des Liberalismus schlagartig deutlich. Liberalismus ist nun mal nichts für Krisenzeiten bzw. wenn die Lösung eines Problems völlig offensichtlich und unwiderlegbar in der Solidarität liegt, kommen von den Liberalen nur noch dumme Sprüche. Ein Liberalismus als Ideologie des Eigennutzes hat logischerweise genauso wenig das Potenzial, Menschen zur Überwindung solcher Krisen wie zur Verteidigung des Gemeinwesens, der Demokratie oder der Freiheit zu motivieren. Das freie Individuum des Liberalismus ist das Individuum, das seine eigenen Interessen verfolgt – es wird uns nicht helfen.

Freiheit zu definieren, kann nicht das Privileg einer einzelnen Ideologie sein, weshalb auch dem Liberalismus kein solches Privileg zukommt. Ich behaupte an dieser Stelle, dass der Kampf für die Freiheit immer auch ein Kampf für das Gemeinwesen sein muss; es muss letztlich ein republikanischer Kampf sein. Das Individuum ist die Keimzelle der Gesellschaft, aber es ist das vergesellschaftete Individuum, nicht das Individuum, das sich selbst genügt oder allein die Welt genießt. Der liberale Individualismus ist deshalb nicht zwingend in Gänze abzulehnen, aber er ist in seiner Limitiertheit erkennbar, vor allem, wenn es darum geht, das freiheitliche Gemeinwesen zu verteidigen (also die Freiheit genauso wie das Gemeinwesen – weil beide nicht voneinander zu trennen sind!). Es ist kein Wunder, dass das gesellschaftliche Ideal mancher Liberaler das einer dezidiert „unpolitischen“ Gesellschaft ist. Es gibt aber keinen Grund zu glauben, dass der Republikanismus weniger dazu in der Lage wäre, zu definieren (also begrifflich einzugrenzen), was das Private ist, das dem Zugriff des Politischen unbedingt entzogen werden muss. AUCH der Republikanismus muss bestimmen, was die Grenzen des Staates sind, um zu vermeiden, in einen Totalitarismus umzuschlagen, der nicht mehr republikanisch wäre. Nach „Freiheit statt Liberalismus II“ wird darüber noch nachzudenken sein.

Fortsetzung: Freiheit statt Liberalismus II

2 Gedanken zu „Freiheit statt Liberalismus I“

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