Ost-westliche Lektüre

Seit April 1995 lebe ich in Dresden. Zuvor hatte ich in Niedersachsen, wo ich geboren worden bin, und Nordrhein-Westfalen gelebt. Ich bin also ein Wessi.

Oder vielleicht bin ich auch ein „Wossi“ – es gibt die Behauptung, dass es solche Wesen auch gebe, und zwar in zwei Varianten: Als Weststämmige, die sich im Osten assimiliert haben, und als Oststämmige, die an die ostdeutsche Herkunft eine zweite westdeutsche Sozialisation angeschlossen haben. Ich habe diesen Begriff allerdings lange nicht mehr gehört.

Ich habe seinerzeit mein in Münster begonnenes Studium bewusst „im Osten“ fortgesetzt, weil mich die Unterschiede gereizt haben. Ich habe seinerzeit erwartet, dass ein Angleichungsprozess vor uns stehen würde (vielleicht war das eine übertriebene Erwartung), und die Chance gesehen, auf völlig anders sozialisierte Menschen zu treffen, die aber praktischerweise dieselbe Sprache wie ich sprachen. Ich finde Differenzerfahrungen grundsätzlich interessant, also machte ich mich auf den Weg.

Es war tatsächlich interessant, mit Gleichaltrigen zu reden, die in einem anderen System aufgewachsen waren – mir fiel damals schon auf, dass die in ihrem System verhältnismäßig vom Westen mehr gewusst hatten als wir vom Osten. Ich hörte erstmals was von Keimzeit (und das war schon mehr eine Nach-Wende- als eine DDR-Band), aber mir sind noch nie so viele Depeche-Mode-Fans begegnet wie im Osten. Irgendwie hatten die Ossis auch Anteil an der Westkultur gehabt, die für mich die alleinige war. So gesehen hatte ich also erstmal einen Bildungsnachteil.

Ich habe mich bald nach dem Umzug in der Prager Straße für ein Abonnement einer Lokalzeitung werben lassen. In den Leserbriefen fanden sich dann Hinweise auf die Realität anderer Menschen – jener mit noch mehr DDR-Biografie und erwartbar weniger Jahren vor sich als meine Mitbewohner im Studierendenwohnheim und Kommiliton*innen. In einem Leserbrief fiel mir ein Satz auf, der ungefähr so lautete: „Jeder Tag, an dem ich nicht gearbeitet habe, ist ein Tag, an dem ich nicht gelebt habe.“ Ich war beeindruckt und unangenehm berührt. Es ist ein biografischer Zufall, dass ich am Zaun der bundesdeutschen Botschaft in Prag 1989 mit DDR-Refugees reden konnte, die meinen Hinweis, dass diese Arbeitslosigkeit nun auch nicht nur eine SED-Propagandalüge sei, beiseitewischten. Jetzt war diese Arbeitslosigkeit in ihrer Heimat angekommen und wirkte offenbar noch verheerender als im Westen. Klar, war bei uns in meinem Heimatdorf manchmal auch jemand arbeitslos, aber der betroffene Mensch war doch weiterhin Mitglied der Kirchgemeinde, im Schützenverein, bei der Freiwilligen Feuerwehr oder einfach nur ein Teil der Nachbarschaft.

Ich lernte also, dass in der DDR der Betrieb nicht nur Arbeitsplatz gewesen war, sondern auch das soziale Umfeld des Individuums definiert hatte. Wenn man im Westen lebt und darüber nichts weiß, kann man es auch im Buch „Integriert doch erst mal uns. Eine Streitschrift für den Osten“ der sozialdemokratischen Staatsministerin für Gleichstellung und Integration im Freistaat Sachsen, Petra Köpping, nachlesen. Man könnte ja meinen, dass eine Streitschrift für den Osten in erster Linie an den Westen adressiert sein dürfte. Ich würde sagen, dass ihm dort noch am ehesten Leser*innen zu wünschen sind. Es ist geeignet für Interessierte, die einen schnellen, wenn auch nicht zu tiefgreifenden Einblick in spezifische Problematiken für Ex-DDR-Bürger*innen erhalten möchte, die man selber nie zu spüren bekommen hat. Beispielsweise die der Rentenversorgung von in der DDR geschiedenen Frauen. Solche Dinge kann man im Westen ruhig mal zur Kenntnis nehmen!

Nun ist das Buch von Petra Köpping aber auch ein Versuch, Phänomene wie Pegida oder die überdurchschnittlich großen Erfolge der AfD zu erklären, oder anders gesagt, warum der Rechtspopulismus a) im Osten und b) insbesondere in Sachsen so erfolgreich ist. Sie nimmt dabei die Demütigungen der Nachwendezeit in den Blick wie die Erfahrung existenzieller Unsicherheit, das in diesem Ausmaß im Westen nicht bekannt ist. Der Abbau der DDR-Wirtschaft ist als Grundursache ausgemacht – und hier stellt sie sich kritisch gegen das Wirken der Treuhandanstalt. Das Spezifikum Sachsen erklärt sie aus zwei weiteren Details: Sachsen sei schon zu DDR-Zeiten ein Land der Ingenieure und Wissenschaftler gewesen, die in besonderem Maße von Kränkungen und Demütigungen betroffen worden seien. Und außerdem habe Kurt Biedenkopf Sachsen zu einem „Versuchsfeld neoliberaler Politik“ gemacht. Der Unterschied ist also ein gradueller: Der allgemeine Absturz fiel in Sachsen noch krasser aus und der neu eingeführte Kapitalismus war in Sachsen noch kapitalistischer. Als Erklärung bleibt das ein wenig unbefriedigend. Dass aber Sachsen nach der Wende das ostdeutsche Bundesland war, in dem am allerwenigsten demokratisches Engagement erwünscht war bzw. ermutigt wurde, könnte schon eher erklären, warum Teile (wohlgemerkt, ich rede von „Teilen“!) dieser Gesellschaft zwar verwaltungsmäßig, aber nicht geistig im Geltungsbereich des Grundgesetzes angekommen sind.

Ein Hinweis Petra Köppings sei allerdings den Westdeutschen auch nahegelegt: Es sollte nicht unterschätzt werden, dass viele Menschen in der Nachwendezeit kaum Zeit hatten, sich politisch zu engagieren, weil sie genügend damit beschäftigt waren, ökonomisch über die Runden zu kommen. Einer insbesondere in Sachsen eher autoritär ausgerichteten Regierung kam das sicher gelegen, und so erinnert nicht nur Petra Köpping das Politikverständnis vieler Mitbürger*innen an die Mentalität des DDR-Eingabewesens.

Dass die ja nicht nur in der Sachsen-SPD populäre historisch-ökonomische Erklärung, die Treuhand habe funktionierende Betriebe zerstört, in dieser Einfachheit bezweifelt werden kann, soll an dieser Stelle nicht näher erörtert werden. Denn es nützt ja nichts: Auch wenn die Ostbetriebe nicht produktiv waren, so können ja die Menschen nichts dafür, die darin gearbeitet haben. Mit den Folgen mussten sie dann leben, und es waren gewinnorientierte Kapitalisten, keine Wohltäter, die ins Land kamen – so ist das eben, wenn man sich für den Beitritt zum Kapitalismus entscheidet. Den Menschen zu sagen, „ihre“ Betriebe seien produktiv und wettbewerbsfähig gewesen, ist vielleicht auch nur eine Form von Populismus, aber das ändert ja so oder so nichts mehr. Es macht die Geschichte vielleicht nur noch trauriger: Petra Köpping erzählt den Menschen, dass sie eine Chance hätten haben können, aber die hatten sie wahrscheinlich nie; der real existierende Sozialismus hatte einfach nicht die Voraussetzungen für ein Überleben im Kapitalismus geschaffen – was ja irgendwie ja auch den meisten schwante, denn jahrelang hatte man geunkt, dass dieser Sozialismus bankrott sei, und dann war es trotzdem eine Überraschung, dass er es tatsächlich war! Und im Nachhinein wollte man das auch nicht mehr wahrhaben. Dabei konnten die Menschen ja nichts dafür, dass sie in die Verhältnisse hineingeboren worden waren, die sie nicht hatten gestalten können. Die Demütigung war so gesehen vielleicht unausweichlich, das beißt sich freilich mit dem Anliegen, jemanden dafür verantwortlich zu machen, und dafür müssen dann eben die raffgierigsten, konservativsten und neoliberalsten Westdeutschen herhalten, die in den Osten gekommen sind, um sich den Laden unter den Nagel zu reißen.

Denn moralischer Schuld bedarf es ja doch, wenn der Clou des Buches, nämlich der Vorschlag, eine bundesdeutsche „Wahrheits- und Versöhnungskommission“ ins Leben zu rufen, zünden soll… Wobei das dann wirklich das Lächerlichste bzw. Unverschämteste an diesem Buch ist, wortwörtlich auf den Titel der südafrikanischen Truth and Reconciliation Commission anzuspielen bzw. auf inhaltlich ähnlich gelagerte Kommissionen anderer Länder, die schwerste Menschenrechtsverletzungen aufgearbeitet haben. Als hätten wir an das Schicksal der in der Nachwendezeit verschleppten, gefolterten und ermordeten Ostdeutschen zu erinnern! Ich hoffe, man erspart uns die Peinlichkeit, dass diese Diskussion weitergeführt wird. Dieses ostsozialdemokratische Pathos ist dann doch eine Spur zu klebrig. Das äußert sich dann auch in Formulierungen wie der von der Aufarbeitung als „Mehrwert an sich“ (da kann man mal sehen, dass die SPD keine marxistische Partei mehr ist).

Als Weststämmiger bleibt bei mir eine Frage offen: Petra Köpping betont, dass die Nachwendezeit eine Zeit der Entsolidarisierung teilweise erschütternden Ausmaßes gewesen sei. Den Anteil der Wessis daran kennen wir jetzt ja. Allerdings fragt die Autorin auch: „Sind wir nicht blindlings der D-Mark und den Bananen hinterhergelaufen?“ (ich frage mich übrigens, wie das „DM-Zeichen“, das einige Ostdeutsche in den Augen gehabt haben sollen – siehe Seite 100 – ausgesehen haben mag), und ob nicht auch einige Ostdeutsche schnell gerlent hätten, „ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen“. Das ist ja schon mal ganz gut, dass es hier nicht um die Zuschreibung einer reinen Opferrolle gehen soll. Aber wie war es mit der Solidarität der Vorwendezeit bestellt, wenn sie sich so einfach beseitigen ließ? Was war eine Solidarität überhaupt wert, die (siehe oben) sich ausschließlich am Innehaben eines Arbeitsplatzes festmachte? Verdient eine Solidarität, die in der Krise, also genau dann, wenn man sie braucht, ausfällt, diese Bezeichnung wirklich? Ich kann es nicht erörtern, aber ich hege den Verdacht, dass es nicht nur die Verheerungen der Zeit während und nach der Wende sind, die die konstatierte Verletztheit der Ostdeutschen verursacht haben. Das müsste zur Aufarbeitung also noch dazugehören.

Es gibt Nationen, für die Revolutionen identitätsstiftend sind. Das liegt daran, dass die Revolution jeweils bleibende Ergebnisse gezeitigt haben. Frankreich ist auch heute noch eine Republik – okay, es gab Rückschläge, aber die Revolution war am Ende siegreich. Und wie war es bei den Bürgerinnen und Bürgern der DDR? Ende 1989 machten sie ihre Revolution, und im Oktober 1990 war ihr Land weg. Was für eine Revolution soll das denn sein? Eine Revolution ist etwas, was ein Land verändert und nicht einfach aufgibt. Aber kaum hatte die DDR demokratische Institutionen, haben diese beschlossen, die DDR aufzugeben und einem anderen Staat beizutreten. So ist die Revolution praktisch verlorengegangen. Da hilft auch die Feststellung nichts, dass es dazu keine Alternative gab oder dass die DDR doch sowieso nur ein Teilstaat war. Die Leute haben eine Revolution gemacht, die ihr Land beseitigt statt verändert hat. Wenn es dann darauf hinausläuft, sich in eine andere Gesellschaft einzufügen – oder es zu versuchen – wird es schwer, das Eigene zu bewahren. Normalerweise führen Revolutionen dazu, dass auf den Sturz des Souveräns die Gründung neuer Institutionen folgt. Das ist in der Friedlichen Revolution der DDR weggefallen. Politische Erfahrungen werden so seltsam beziehungslos. Ja, eigentlich sind die Erfahrungen der DDR-Bürgerrechtler*innen etwas Wertvolles, aber sie beziehen sich auf etwas, was ersatzlos verschwunden ist. Und einen Diskurs über Bürger*innenrechte gab es im Westen bereits. Man brauchte keine Stasi, um gegen Überwachung zu sein – ich erinnere mich z. B., wie 1984 George Orwells Dystopie in aller Munde war, und an den Volkszählungsboykott von 1987. Die Friedliche Revolution ist möglicherweise dermaßen gegenstandslos geworden, dass sie sich zum Thema für Gedenkreden und Phantastereien verflüchtigt hat. Die Phantasterei ist die, dass wir jetzt ein neues „1989“ haben und der Systemsturz kurz bevorsteht. Ältere Herren meinen, „sie“ hätten ja schon einmal eine Regierung bzw. ein Regime gestürzt und jetzt sei genau so eine Stimmung im Lande. Sie vergessen, dass sie seit mittlerweile über vier Jahren an dieser Wende laborieren – in dem Zeitraum wäre die SED-Diktatur schon viermal weg gewesen.

Wenn die Neigung, sich fremd im eigenen Land zu fühlen, gerade dort am stärksten ausgeprägt ist, wo die wenigsten „Fremden“ leben, dann kann Migration nicht die eigentliche Ursache dafür sein. Hier geht es mir nicht um die Wiederholung der Erkenntnis, dass der Umgang mit Migrant*innen gerade denen am schwersten fällt, die gar keine Migrant*innen kennen. Das „sich fremd fühlen“ muss auf anderen Erfahrungen oder Nicht-Erfahrungen beruhen. Migration wirkt dann eher als Katalysator, der die Fremdheit oder Entfremdung spürbar macht. Das Unbehagen war schon vorher da, aber jetzt hat man ein Feindbild, auf das man es projizieren kann. Im Buch „Die politische Ökonomie des Populismus“ von Philip Manow lese ich, dass rechtspopulistisches Wahlverhalten nicht unbedingt der Protest der „Abgehängten“, sondern eher derjenigen, die früher schon mal arbeitslos gewesen sind, die Angst vor dem Statusverlust breche sich darin Bahn. Aber im Osten bzw. in Sachsen ist es ja wohl noch ein bisschen mehr als das. Vor allem das Maß der Verrohung, das absolute Unverständnis für demokratische Prozesse, und der Unwille, aus der eigenen Echokammer herauszukommen, wie man es bei Pegida und den sozial-medialen Ausläufern beobachten kann. Dass sie mit einem demokratischem Gemeinwesen vielleicht nie mehr klarkommen werden, ist allemal tragisch. Aber dafür sind sie auch nicht die Mehrheit. Einer der größten Fehler allerdings ist es, so zu tun, als ob sie die Mehrheit seien.

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