Nach den Unterschriften

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben in einer Urabstimmung den Koalitionsvertrag und das parteieigene Personaltableau für die Bundesregierung bestätigt. Mein „Ja“ ist mit einem Misstrauensvorschuss verbunden.

Die Zustimmung zum Koalitionsvertrag halte ich für einen pragmatischen Schritt, auch wenn ich verstehen kann, dass für manche Parteifreund*innen eine Zustimmung nicht in Frage kam. Wer beispielsweise die Verkehrswende als Schwerpunkt des persönlichen politischen Engagements gewählt hat, muss enttäuscht sein, und zwar angesichts des Vertragstexts und der Besetzung des Ressorts. Dies lässt nicht viel Gutes erwarten, auch hinsichtlich des Erreichens der notwendigen Klimaziele. Es bleibt aber zu hoffen, dass es trotzdem oder gerade deswegen viel GRÜNEN Druck in diesem Bereich geben wird, so dass sich Wissing nicht herausnehmen kann, was sich Scheuer noch herausnehmen durfte.

Gar nichts halte ich von Vorstellungen wie der, dass man auf das Außen- oder das Familienministerium zugunsten des Verkehrsministeriums hätte verzichten müssen. Abgesehen davon, dass fraglich ist, ob die Koalitionspartner*innen einen solchen Deal mitgemacht hätten, würde ich sagen, dass ich von denjenigen, die das fordern, bitte keine Klagen mehr über die Lage an der Grenze zwischen Polen und Belarus oder zur Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen für Demokratie hören will, wenn sie die zuständigen Ressorts für „nicht so wichtig“ halten.

Mit romantischen Schilderungen der Koalitionsverhandlungen kann ich allerdings auch nichts anfangen. So schön es auch sein mag, dass Verhandler*innen sich menschlich näher gekommen sind und größeres Verständnis für die Positionen der jeweils anderen entwickelt haben, so werden die Differenzen in einer Dreierkoalition die Beteiligten früh genug in eine ungemütliche Lage bringen. Wer hofft, über wechselnde Allianzen Fortschritte erzielen zu können, übersieht, dass gerade dieses taktische Herangehen wenig zur Vertrauensbildung beitragen dürfte – denn gerade dadurch werden die Differenzen ja als mögliche Bestandteile von „Verhandlungsmassen“ strategisch auf- statt abgewertet.

Mal abgesehen davon, dass wir als GRÜNE den Wahlkampfquark von Scholz als „Klimakanzler“ nicht naiv glauben sollten und die SPD auch eine Truppe ist, die zum Klimaschutz gezwungen werden muss, ist das größte Sorgenkind allerdings die FDP. Rein politisch gesehen war sie in letzter Zeit die Partei des Vulgärliberalismus, deren völlig verkümmerter Freiheitsbegriff ihr selbst in nächster Zeit so ziemlich im Weg stehen dürfte, wenn es darum gehen wird – um mal die Koalitionsvertragslyrik zu bemühen – „mehr Fortschritt“ zu „wagen“. Ihre zuletzt bewiesene rein ideologisch bedingte Unfähigkeit, das gesundheitspolitisch Notwendige anzuerkennen, lässt Schlimmes erwarten (und es war ein unverzeihlicher Fehler, ihr das Zugeständnis zu machen, die epidemische Notlage von nationaler Tragweite nicht länger erkennen zu wollen). Dass es ein paar vernünftigere Geister in dieser Partei gibt (deren Freiheitsverständnis sich nicht in der Berechtigung zu klima- und gesellschaftsschädlichen Verhalten erschöpft), führt lediglich zu hochideologischen innerparteilichen Diskussionen über das Verhältnis von Freiheit und Verantwortung. Wenn diese Debatte nicht symbolischer Natur bleibt (womit sie ziemlich sinnlos wäre), muss sie an die Substanz der Partei rühren. Die damit verbundenen Verwerfungen würden die FDP nicht als stabilisierendes Element der künftigen Koalition qualifizieren.

Ganz besonders aber fürchte ich eine GRÜN-interne Naivität, die sich darüber freut, dass „Brücken gebaut“ wurden und aus gegensätzlichen Positionen neue Dynamiken entstanden seien. Wir glauben vielleicht ein bisschen zu sehr, dass es um ein Spiel der Meinungen geht, und übersehen den Stellenwert von Interessen. Dass Parteien Interessen vertreten und nicht nur Meinungen, sollte uns stärker bewusst sein. Wenn die FDP ihre Gegnerschaft gegen ein Tempolimit mit ihrem Freiheitsbegriff verbrämt (deswegen klingt dieses große Wort in dem Kontext ja so lächerlich), dann ändert das nichts daran, dass sie das Interesse derjenigen vertritt, die auf der Autobahn rasen wollen, und dass sie auf diese Wählerschaft, die für Argumente unuzugänglich sein dürfte, eigentlich angewiesen ist – wie beispielsweise auch auf Erb*innen großer Vermögen, denen vor allem an ihrem ungeschmälerten Vermögen liegt, oder Menschen mit einem großen ökologischen Fußabdruck, die diesen nun mal nicht verkleinern wollen, weil sie keine Lust dazu haben. Wenn die aus dieser Ausgangslage resultierenden Widersprüche die Koalition blockieren, müssen wir bereit sein, eine sich möglicherweise daraus ergebende Dynamik außerhalb derselben wahrzunehmen.