Geliehene oder verschenkte Stimmen?

Angesichts aktueller Umfragen treibt viele Menschen die Sorge um, dass die AfD die stimmenstärkste Partei bei den nächsten Landtagswahlen in Sachsen werden könnte. Die Sorge ist nicht neu, aber sie ist größer geworden und es steht zu befürchten, dass manche Wähler*innen wie schon 2019 die falsche Konsequenz daraus ziehen werden.

Man könnte ja schon mit der Frage anfangen, wie sinnvoll es überhaupt ist, das eigene Wahlverhalten an Umfragen auszurichten. Aber den Absatz dazu stelle ich mal zurück (siehe unten).

Ich kann nicht quantifizieren, wie viele Menschen so denken, aber ich höre doch immer wieder, dass man die CDU wählen müsse, um zu verhindern, dass die AfD stärkste Partei werde – und ich höre von Menschen in meinem politischen Umfeld, dass sie das auch von Bekannten und Freund*innen hören. Das hat schon 2019 dazu geführt, dass Menschen die CDU gewählt haben, obwohl sie zuvor normalerweise Wähler*innen einer anderen Partei aus dem progressiven Spektrum gewesen waren. Die CDU bekam sogenannte Leihstimmen. Im Sinne dieser Taktik ist 2019 nochmal alles „gutgegangen“, indem die CDU stärkste Partei wurde.

Heraus kam dabei eine Regierung, die durch eine CDU dominiert wurde, die durch die Leihstimmen von Grün- oder SPD-Wähler*innen keinen Deut grüner oder sozialdemokratischer wurde. Ohne an dieser Stelle schon eine Bilanz dieser Regierung zu ziehen, ist klar, dass die Stärke der CDU den grünen und sozialdemokratischen Anliegen nicht gerade zuträglich war. Wer in Sachsen die CDU wählt, bekommt eben eine verhältnismäßig weit rechts stehende CDU, die in erster Linie darüber nachdenkt, wie sie AfD-Wähler*innen „zurückgewinnen“ kann.

Wie hoch darf der Preis sein, den man dafür zahlt, dass die AfD nicht die stärkste Partei wird?

Entscheidend ist ja die Frage, was passieren würde, wenn die AfD die meisten Stimmen erhielte: Solange sie nicht die absolute Mehrheit erreichen würde, bliebe erstmal alles offen. Entscheidend wäre ja, dass es noch eine demokratische Mehrheit jenseits der AfD gibt. Scheinbar hängen manche Menschen aber dem Irrglauben an, dass die AfD automatisch so eine Art „Regierungsauftrag“ bekäme, wenn sie die stärkste Partei würde. Diesen Mechanismus gibt es tatsächlich nicht! Regieren werden die Parteien, die zusammen eine Koalition bilden können. Wenn die AfD keine Koalitionspartnerin findet, kann sie auch nicht regieren.

Bleibt die Frage, wer eine Koalitionspartnerin der AfD sein könnte. Die Hauptverdächtigen sind hier ja wohl weder LINKE, SPD und GRÜNE. Würde also die CDU mit der AfD koalieren?

Da gibt es meines Erachtens ein unwahrscheinliches und ein weniger unwahrscheinliches Szenario.

Es kommt ja nicht darauf an, welche Schandtaten ich der sächsischen Union zutraue oder nicht. Es sprechen gewichtige – auch aus ihrer Sicht – rationale Gründe gegen eine Koalition der CDU mit der AfD. Die daraus folgenden Verwerfungen im CDU-Bundesverband würden auf die sächsische Union zurückschlagen. Der Imageschaden für Sachsen wäre enorm. Und schließlich müsste man mit einer Chaotentruppe zusammenarbeiten, die tatsächlich nicht regierungsfähig ist (und der das ja nicht einmal die eigenen Wähler*innen zutrauen). Das Ergebnis wäre zwangsläufig Instabilität, und sowas mag die CDU in Sachsen eigentlich nicht.

Sollte die AfD stärkste Partei werden, würde sie den Ministerpräsidentenposten und die mächtige Staatskanzlei für sich reklamieren müssen. Wenn sich die CDU als „Juniorpartner“ unterordnen würde, würde sie also Macht und Kontrolle aufgeben. Ich kann nicht erkennen, warum sie das anstreben sollte, wenn sie in einer Koalition mit kleineren Partnerinnen weiterhin den Ministerpräsidenten stellen könnte.

Anders sähe es aus, wenn die CDU weiterhin den Ministerpräsidenten stellen und die Staatskanzlei besetzen könnte. In diesem Fall würde sie bei einer Koalition mit der AfD (als „Juniorpartnerin“) bei weitem nicht so viel verlieren, als wenn sie sich ihr unterordnen müsste. Deshalb müsste die Bereitschaft zur Koalition – wenn sie denn überhaupt vorhanden ist – in diesem Falle größer sein.

Womit wir beim scheinbar paradoxen Ergebnis sind, dass eine Regierungsbeteiligung der AfD unwahrscheinlicher wäre, wenn sie die stärkste Partei würde.

Wie gesagt, ich unterstelle der CDU nicht einmal die Bereitschaft zu einer Koalition mit der AfD, aber das taktische Ziel, zu verhindern, dass die AfD stärkste Partei wird, über alles zu stellen, ist auch taktisch nicht klug. Man mag ja dadurch motiviert sein, dass es einen schlechten Eindruck macht, wenn die AfD die meisten Stimmen gewinnt, aber entscheidend ist die Notwendigkeit einer Mehrheit jenseits der AfD und der Bildung einer demokratischen Koalition – und in dieser Koalition ausgerechnet die Partei zu stärken, die zumindest in Teilen der AfD noch am nächsten steht, ist dann auch strategisch gesehen ein großer Fehler.

Zum Schluss nochmal der Blick auf den Umgang mit Umfragen: Ich kann mich ja erinnern, dass eine Kritik an „der“ Politik früher war, dass diese „auf die Umfragen schiele“. Mittlerweile scheint dieses „Schielen“ akzeptiert zu sein, ja es wird als schlau angesehen, wenn auch die Wähler*innen sich so verhalten… Das kann man aber auch ganz grundsätzlich in Frage stellen, denn „taktisches“ Wählen trägt auch dazu bei, dass Wahlen den Charakter eines Elements politischer Willensbildung verlieren. Das ist schon mal ganz grundsätzlich Mist!

Man könnte schon mal ein paar Stunden darauf verwenden, zu prüfen, wie aussagekräftig Umfragen tatsächlich sind, und sich die Frage stellen, ob die Informationsbasis für „taktische“ Entscheidungen ausreichend ist. Man bedenke aber, wenn man sich auf das Spiel unbedingt einlassen will, dass die methodisch schlechteren Umfragen billiger und damit an umfragesüchtige Medien besser verkäuflich sind. Dass ständig Umfrageergebnisse veröffentlicht werden, ist eben keine Garantie dafür, dass die Informationsbasis solider wird. Man sollte sich aber vor allem davor hüten, alle Umfragen als ein Kontinuum zu betrachten. Um auf eine Entwicklung zu schließen, sollte man die Zahlen desselben Umfrageinstituts im zeitlichen Verlauf vergleichen – und nicht die INSA-Zahlen von vor zwei Wochen mit den Civey-Zahlen von gestern, denn die haben nicht dieselbe methodische Basis.