Sorry, nachdem ich mich 2020 über das Verhältnis von Wissenschaft und Politik ausgelassen habe und 2021 einen Nachtrag dazu verfasst habe, hätte ich jetzt noch ein paar Anmerkungen zum Thema.
Ich möchte nämlich noch kurz auf das bereits 2021 im Reclam-Verlag erschienene Büchlein „Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet“ des Soziologen Alexander Bogner eingehen.
Eins vorab: Die Gefährdung der Demokratie durch die Macht des Wissens befürchte ich nach der Lektüre nicht mehr als vorher. Aber dass Politik und Wissenschaft nicht so ohne weiteres miteinander vereinbar sind, ist ja ein Gedanke, den ich so ungefähr auch vertreten habe. Nur habe ich zum einen die einfache Übertragbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse in politisches Handeln bezweifelt und zum anderen ging es mir darum, dass die Wissenschaft durch die Interaktion mit der Politik beeinträchtigt werden kann. Alexander Bogner betont die andere Seite: Politische Debatten könnten ihren spezifischen Charakter verlieren, wenn man sie auf das Anerkennen wissenschaftlich behandelter Sachverhalte reduzierte. Die „Epistemokratie“ würde dann der Demokratie keinen Platz lassen.
Die Frage ist nur, ob diese Gefahr real ist. Und da muss ich sagen, dass ich sie nicht sehe. Ja, es gibt Menschen, die meinen, dass die Politik der Wissenschaft einfach „folgen“ müsse, und übersehen, dass das nicht ohne weiteres möglich ist und es in der Demokratie immer um die Verhandlung unterschiedlicher Werte geht – unabhängig davon, wie gut informiert die Beteiligten sind. Aber das bloße Vorhandensein dieser „szientistischen“ (oder „epistemokratischen“) Position bedeutet ja nicht, dass sie sich durchsetzen wird. Sie muss vielmehr ins Leere laufen, weil eine einfache Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnis in politisches Handeln schlicht unmöglich ist (dass Politik evidenzbasiert sein sollte, bleibt trotzdem eine berechtigte Forderung!). Es ist auch nicht absehbar, wie das funktionieren soll, dass die Wissenschaft etwas „sagt“, das dann von der Mehrheitsgesellschaft „akzeptiert“ wird. Man muss sich da gar nicht bei den Schwurblern und Wissenschaftsgegner*innen aufhalten: Es gibt eine große Bandbreite des Nicht-Verstehens, des Nicht-verstehen-Könnens und des Nicht-verstehen-Wollens (und auch des Missverstehens) in der Gesellschaft. Wir haben 2020/2021 eben NICHT alle einen virologischen Grundkurs belegen können. Auf die Schwierigkeiten (inklusive Unfähigkeit und Unwilligkeit) der Medien, wissenschaftliche Ergebnisse zu behandeln, bin ich schon in meinem ersten Nachtrag zu „Wissenschaft und Politik“ eingegangen. Schon an dieser Hürde scheitert die Epistemokratie (bzw. ist sie in der Corona-Zeit gescheitert).
Ich will hier gar nicht auf die Vielzahl der Anregungen in Bogners Text eingehen und empfehle die Lektüre. Ich kann theoretisch den Gedanken nachvollziehen, dass „die Macht des (wissenschaftlichen) Wissens eine Politik der Alternativlosigkeit unterstützen kann“ (S. 108). In der Zeit der Corona-Pandemie wurde sicherlich sehr intensiv mit Wissenschaft argumentiert, um Maßnahmen als alternativlos darzustellen. Aber es gab immer eine Meinungsvielfalt, also auch Widerspruch, unterschiedliche Wege (durch den Föderalismus in unserem Land noch befördert) und eben keine allgemeine unhinterfragte Akzeptanz wissenschaftlich fundierter Forderungen. Die Wahrheit hat den Pluralismus nicht aufgehoben (manche scheinen darunter geradezu gelitten zu haben). Bogner geht es aber um die Einsicht, „dass Politik und Wissenschaft voneinander getrennte Sphären sind: So wenig sich wissenschaftliche Wahrheit nach der Mehrheitsmeinung richtet, so wenig ist es Aufgabe der Politik, die Wahrheit zu vollstrecken“ (Zitat: S. 109) Das ist richtig. Politik und Wissenschaft sind aber nicht nur voneinander getrennte Sphären, sie KÖNNEN auch gar nicht miteinander vermengt werden.
Man sollte Geltungsbehauptungen immer kritisch überprüfen. Das gilt insbesondere auch für solche, die sich auf die Wissenschaft berufen. Nur ist der Vorteil an der Wissenschaft, dass das in ihrem Fall auch verhältnismäßig einfach möglich ist! Schließlich ist die Wissenschaft die Sphäre, in der mit Falsifikation gearbeitet wird und es üblich ist, einen Konsens bei Bedarf neu zu bestimmen. Ich halte auch religiös begründete Geltungsbehauptungen grundsätzlich für legitim, aber bei ihnen ist die Überprüfung wesentlich schwieriger… Der meines Erachtens einzige Fall der Begründung politischer Systeme durch eine „wissenschaftliche Weltanschauung“ waren die Regimes des sogenannten real existierenden Sozialismus, bei denen die Herrschaftsideologie aber keine Wissenschaft, sondern eben eine Ideologie war, von der behauptet wurde, dass sie Wissenschaft sei. Und dass diese Ideologie unwissenschaftlich war, konnte man ja gut daran erkennen, dass sie sich der Überprüfung des Konsenses verweigerte und keine Bereitschaft zeigte, sich auf Falsifikationsprozesse einzulassen. Wenn Wissenschaft mit ewiger Wahrheit verwechselt wird, gerät die Geltungsbehauptung in einen inneren Widerspruch. So gesehen wäre die Widerlegung der Behauptung, dass die herrschende Ordnung dem Willen Gottes entspreche, bedeutend schwieriger.
Die Gefahr, dass die Wissenschaft die Politik determinieren könne, halte ich für recht gering: Diese Vorstellung unterschätzt schon den Pluralismus INNERHALB der Wissenschaft: Die Unterschiedlichkeit der Ansätze, die Unterschiede zwischen den Disziplinen und die Offenheit, ohne die der wissenschaftliche Prozess seine Wissenschaftlichkeit verlöre. Schließlich ist meines Erachtens nicht zu erkennen, dass Wissenschaft die Wertefrage entscheiden würde. Unterschiedliche Werturteile bleiben auch angesichts wissenschaftlicher Erkenntnisse immer noch möglich. Da die Wissenschaft strukturell unfähig ist, den gesellschaftlichen Diskurs zu dominieren, schadet es bestimmt nicht, sie öfters zu befragen.